Eine meiner Kolumnen in der OTZ

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ich sitze mit meinem Schüler über einer kniffligen Mathe-Aufgabe, mir fällt so ganz nebenbei ein, dass ich mein Smartphone nicht ausgeschaltet habe und ich greife nach meiner Tasche. Zu spät. Ein Signalton erklingt und Laurent schaut mich ganz entgeistert an: „Das war doch.. sind Sie etwa bei Facebook?“ Ich: „Ja und?“ „Na aber…stottert er, „ Sie sind doch schon alt. Ganz schön alt sogar.“

 

Stille im Raum. Ja, ich bin schon alt. Stimmt. Was soll ich ihm jetzt sagen? Dass es unhöflich ist, so etwas zu erwähnen, dass man das taktvoller ausdrücken kann, dass ich mich doch gar nicht so alt fühle, dass ich solch eine Antwort nicht erwartet hätte, dass Alter ein relativer Begriff ist, ja was noch? Mir fällt sogar ein Witz ein, in welchem eine ältere Dame einem Herrn betreffs vorgerückten Alters antwortet: Antiquitäten nehmen mit den Jahren auch an Schönheit und Wert zu.“

 

Laurent stutzt ob meiner Schweigsamkeit. Hat er etwas Falsches gesagt? Egal, er stellt weitere bohrende Fragen. „Gehen Sie etwa auch ins Fitnessstudio? Und Ihre Haare, sind die eigentlich gefärbt? Sterben Sie vielleicht auch in ein paar Jahren?“

 

Ich schaue auf meine Hände mit den hervortretenden Adern, denke an den nächsten Arzttermin und antworte ganz spontan. „ Ins Fitnessstudio müsste ich wieder mal gehen. Meine Haare sind gefärbt. Und sterben will ich noch lange nicht. Aber jetzt frage ich dich mal etwas: Was meinst du, sollte ich lieber Grau in Grau hier erscheinen? Mich bei Facebook und whats app abmelden? Secondlife kündigen? Dafür meine Krankheiten aufzählen und mich selbst bedauern?

 

Er schüttelt heftig den Kopf und meint dann noch: „Ich habe bestimmt zwei Leben oder drei.“ Lächelnd nicke ich ihm zu. „Gut, jetzt aber geht es erst mal weiter mit Mathe.“…

 

Er rechnet, ich nehme schnell mein Smartphone, öffne die App "Notizbuch" und notiere schnell DIE IDEE, wie meine nächste Kolumne beginnen soll...Überschrift "Mitten im Leben"